Textauszug aus der Literaturzeitschrift “Kolik” November 23, 2010

Sophie Reyer

Kindheitsspuren

Sie rührt drei Löffel der Kräutermischung in den Topf kochenden Wassers. Gestrichen voll. Die feinen Körnchen verklumpen zu Bröckchen. Sie rührt weiter. In Drehbewegungen. Dann den Knopf nach links. Knacken. Sie zieht das Unterkiefer in Richtung Brust. Das Gelenk unter dem linken Ohr knackst ihr. Sie stellt den linken Fuß auf den rechten. Kalte Sohle, die am knochigen Fußrücken reibt. Ein Auto fährt in den Hof. Das ist eines der Geräusche, auf die sie wartet. Sie tastet sich mit Zehen den Fußrücken entlang, bis hinauf zum Schienbeinansatz. Dann: Sie greift nach dem Kochtopf. Gießt heiße Brühe in die blaue Keramiktasse, das klingt schwappend. Über den Holzboden schleift sie zu dem roten Lederfauteuil. Setzt sich, zieht die Beine an sich heran. Lässt die Zehen zueinander wandern, einander wärmen.Wärmt sich die Handinnenflächen an der blauen Tasse.Verharrt, schaut. Stille.

Der Schneehaufen vor der Haustüre hat die Hundescheiße überdeckt. Der Motor des Autos beginnt wieder zu brummen. Fahrgeräusche. Sie reibt sich mit leisem Schnauben die Augenwinkel und Körnchen aus ihnen heraus. Plötzlich: Den Tee leert sie mit einem Schluck, gurgelt ihn die Kehle hinunter. Bitter. Dass es ihr schmerzt in den Atemwegen. Sie stellt den Tee auf die dunkelblaue Filzdecke, mit der der Tisch bekleidet ist. Jetzt haben die Hände Zeit für die Füße. Umfassen sie, beginnen zu kneten. Strecken sich dann aus und sie lässt sie über der Öffnung des Radiators in der Luft verharren. Legt die Hände in die Mulde über den Knöcheln. Sie verweilen dort bewegungslos.

(Sie könnte schon kommen jetzt denkst du der Unterleib eine Wölbung wie mit Wasser angefüllt wabbelig die Konsistenz von Gummibärchen/Gelatine das Gefühl um die Nieren die Füße schwer und wie geschwollen und es würde dich nicht wundern wären da blaue Äderchen/dichtes Geflecht/durch die Hautschicht schimmerndes Wurzelwerk das sind doch die Symptome sind das nicht die Symptome dir ist schließlich zum Heulen könntest dich häuten der Kehlkopf ist ein Knödel nicht herunterzuschlucken trotzdem schluckst du nach und aber alles andere wäre doch unmöglich oder solltest du vielleicht doch den Schwangerschaftstest)

Sie zieht ihre Vorhänge ein Stück zur Seite und sieht durch das doppelte Fensterglas. Im Erdgeschoß gegenüber brennt Licht. Die Schneehaufen auf dem Steinpflaster sind schmutzgetränkt.Wie runzelig, denkt sie. Der Kirschbaum streckt die Äste ins helle Grau des Himmels. Knorrig. Die Wand des gegenüberliegenden Hauses gelb. Verputz bröckelt.Vom Balkon des dritten Stocks – der wie zusammengenagelt, eine Bretterkiste – flattert ein blümchenbemusterter Fetzen herunter.
Er könnte herauskommen, rauchen. Die Zigarette in der Thunfischdose ausdämpfen, sie dann ans Fensterbrett stellen. Ein paar Schritte vor der Haustüre machen, in den Lederschlapfen. Die knochigen Arme hochheben, schnell wieder fallen lassen. Sich auf die Unterlippe beißen.
Er kommt nicht.
Der Hof bleibt gleich, solange sie schaut. Nur Geräusche von Autos, die vorbeirauschen. Irgendwo auf der Straße nebenan. Sie kehrt zurück zum Tisch. Es wird nicht warm. Sie bricht ein paar Rippen Schokolade ab, steckt die Quadrate in den Mund, lutscht sich den Zeigefinger ab. Kaut und schluckt schnell. Und weiter: Und sie schiebt die abgebrochenen Rippen in sich hinein, lässt dann den Zeigefinger über das Papier wandern. Bleiben einzelne Reste haften, die sie von der Fingerspitze leckt.

Die Großmutter schaut durch den Türspalt zu dir herein und ein Streifen Licht fällt auf dich. Du sollst nicht weinen und sie lächelt sich die Haut um die Augen in Ritzen/Falten dass du ihr die Freude nicht glaubst. Du suchst das pelzige Tier in deinem Bett. Ob es in den Spalt zwischen den beiden Matratzen gefallen ist? Du weißt, dass es eine wollene Haarschicht und Sommersprossen auf der Plastiknase hat und du es unbedingt wolltest in der Trafik nach ihm gegriffen hast aus dem Wagen heraus an den man dich geschnallt. Daheim hast du es dann angesehen. Dir hat gegraust.Aber jetzt ist es das Einzige, wonach du tasten kannst. Es riecht nach paniertem Fleisch und Gulaschsuppe zu dir herein die Großmutter hat den Spalt offen gelassen damit der Lichtstreifen dir hilft.

Sie steigt die schräge Treppe zum Stockbett hinauf. Die fünfte Stufe von unten wackelt. Sie hält sich am Geländer fest. Legt sich auf die Matratze und schleift den Körper bis in die Ecke. Knipst das Licht an. Und dann: Und schnell die Füße unter die Bettdecke schieben, sie um den Unterkörper zurechtklopfen, an den Außenrändern. Wärme. Die kleine Lampe taucht das Zimmer in mandarinenfarbenes Licht. Sie kratzt sich krustige Bällchen aus der Nase, kickt sie dann mit dem einen Zeigefinger vom anderen weg in den Raum.

Das Zeitungspapier des Vaters knistert, es macht die Geräusche der Nacht und dir stülpen sich Fragen über, die sich wieder aus dir rausstülpen wollen und du wälzt dich und räusperst dich, damit der Vater weiß, dass du wach bist und er nicht ins Nebenzimmer gehen kann wo die Mutter am Sofa sitzt und die Farben des Fernsehers auf ihrem Gesicht flackern und von einer Seite auf die andere, du streckst die Füße aus der Bettdecke, kratzt dir den Hinterkopf, stehst auf, ein Glas Wasser, noch mal schauen, ob da was in die Toilette hineintröpfelt, du deckst dich zu, schwitzt, deckst dich auf, und die Hände des Vaters haben braune Flecken in allen Größen, er faltet die Buchstaben neu und immer wieder neu.

Mit einem Ruck wacht sie auf. Ein Geruch nach Schweiß und Fischigem. In der Bettdecke gefangen. Ihr ist heiß und kalt. Der Rücken nass, zwischen den Schenkeln eine kleine Lacke.
Sie bewegt sich nicht. Die Luft feucht. Der Geruch nach Öl. Nur nicht bewegen. Weiterschlafen. Sonst: Sie müsste die wackeligen Stufen vom Stockbett herunter und dann auf die kalten Kacheln des Badezimmers und keine warmen Handtücher und der feuchte, muffige Geruch aus den Ecken.

Jeden Höcker der vielgliedrigen Plastikraupe belädt die Mutter mit Brotstücken. Die butterbestrichen, mehrschichtig belegt; ein Blättchen Salami oder Käse, ein Gurkenhütchen, eine Olive. Du ziehst die Raupe den Steinweg im Garten entlang, trippelst an der Sandkiste vorbei. Die Räder machen scheppernde Geräusche. An den Birkenrümpfen klettern rote Käfer mit schwarzen Punkten hinauf und verschwinden in Höhlen. Du läufst zu den Stämmen. Zerdrückst so viele du kannst mit den Fingerspitzen.

(Ausschnitt)